Stuttgart- Stelvio: In one go !
Was passiert, wenn wir nicht irgendwann umdrehen, sondern weiterfahren? Wenn die Beine einfach weitermachen und wir, anstatt auf der Couch auszuruhen, immer weiter in Richtung Horizont rollen? Kann ich nonstop vom VOTEC-Hauptquartier auf einen der ikonischsten Gipfel der Radsportgeschichte fahren? Anstatt weiter darüber nachzudenken, haben wir es einfach mal ausprobiert. Mit einer sehr bunten Truppe sind wir Anfang September in Stuttgart Richtung Alpen losgefahren. Das Ziel war der Stelvio, der vor drei Wochen noch den Giro auf den Kopf gestellt hat und wahrscheinlich ganz oben auf der To-Do-Liste aller Rennradfahrer*innen steht.


389 km
7260 hm
17:00 h Bewegungszeit
Flüela-, Ofen-, Umbrailpass
4 FahrerInnen

Der Plan
Der Plan war recht einfach zusammengefasst: Wir wollten von Stuttgart aus via den Flüela- und den Ofenpass den Stelvio erklettern. Die ersten 250 Kilometer der Route sehen seltsam flach aus. Das sind sie natürlich nicht, aber im Vergleich mit den Monstern im späteren Verlauf wird selbst der Anstieg auf die Schwäbische Alb zu einem kaum sichtbaren Hubbel im Höhenprofil. Bis zum Bodensee war die Route also mehr oder weniger eben, ab dort folgte aber ein Auf und Ab ohne eine einzige Flachpassage. Um möglichst viel Tageslicht mitnehmen zu können, wollten wir um Mitternacht starten, den ganzen Tag durchfahren und dann hoffentlich im Sonnenuntergang auf dem Stelvio stehen. Das war ambitioniert, aber nicht völlig unmöglich – knapp 390 Kilometer mit 7250 Höhenmetern sind in 20 Stunden durchaus machbar.

Die Crew
An Bord hatten wir mit Raphael und Lukas zwei Leute, die euch hier im Blog bereits begegnet sind. Lukas ist das Gravel-Everesting gefahren, Raphael war mit seinem VRC beim Two Volcano Sprint. Außerdem hatten wir Marion und Maren eingeladen, uns zu begleiten. Unterm Strich war das eine sehr gemischte Gruppe. Lukas war zwar auf dem Papier dank seiner Erfahrung bei professionellen Rennradrennen der fitteste, aber von der Idee zuerst nicht besonders angetan: „Ich bin im Frühjahr auf diese dumme Idee gekommen, auf Gravel zu everesten. Das habe ich mich ach und krach geschafft und danach habe ich mir geschworen, nie wieder solche Ultrasachen zu machen. Ich hatte noch zwei Wochen lang taube Finger, habe mich am Tag danach wegen der Dehydrierung total verkatert gefühlt, bin immer wieder eingeschlafen – totale Zerstörung! Ich bin trotz meiner Rennraderfahrung auch noch nie so einen Alpenpass gefahren, und deswegen dachte ich dann doch, dass Stuttgart – Stelvio eine coole Erfahrung sein könnte. Noch nie richtige Berge gefahren und dann direkt drei hintereinander!“
„Kilometermäßig war Stuttgart – Stelvio Pillepalle für mich, die Woche davor war ich eine 510-Kilometer-Tour gefahren.“
Marion
Maren fasst ganz gut zusammen, wie der Rest des Mini-Pelotons an die Tour heranging: „Für sowas muss man schon ein bisschen bekloppt sein. Von den Kilometern her habe ich mir aber keine Sorgen gemacht. Ich bin letztes Wochenende zum Beispiel mit einem Kumpel seinen ersten 400er gefahren. Da mache ich mir gar keine Gedanken mehr, ob das funktioniert.“ Marion ging noch etwas weiter: „Kilometermäßig war Stuttgart – Stelvio Pillepalle für mich, die Woche davor war ich eine 510-Kilometer-Tour gefahren.“ Solche markigen Sprüche kommen bei ihr nicht von ungefähr, schließlich hat sie dieses Jahr die Orbit 360 Gravelrennserie gewonnen. Auch deren Mitorganisator Raphael hatte schon eine beeindruckende Menge an Langstreckentouren absolviert und war sich sicher, dass er irgendwie schon ankommen würde. Die ruhige Gelassenheit der drei, die alle nur auf recht kurze „Karrieren“ im Sattel zurückblicken können, stand in krassem Gegensatz zur Aufregung von Lukas, dessen Selbstbewusstsein beim Abendessen vor der Abfahrt einen weiteren Dämpfer bekam: „Ich dachte ja eigentlich immer, dass ich viel Fahrrad fahre, aber als ich die Geschichten vom Rest der Gruppe gehört habe, hatte ich schon Panik. Ich bin völlig unerfahren in diesem Ultrabereich und der Rest der Truppe macht dauernd sowas.“


Der Start
Die Fahrer*innen kannten sich vorher nur teilweise und ein bisschen Spannung lag schon in der Luft, als es dann tatsächlich losging. Marion würde Touren dieser Art normalerweise nur mit bekannten Gesichtern angehen, damit sie sich keine Sorgen um Pausenrhythmus und allgemeine Geschwindigkeit machen muss. Auch für den Rest ergaben sich aus der unbekannten Konstellation Fragen, die aber schnell geklärt werden konnten, wie Maren zusammenfasst: „Wenn man mit unbekannten Leuten fährt, muss sich das am Anfang immer erst eingrooven, aber das hat ziemlich gut funktioniert. Am Berg sind wir alle unser eigenes Tempo gefahren, aber im Flachen hat das gut gepasst. Lukas war vom Fitnesslevel jenseits von Gut und Böse, der war an jedem Berg als Erster oben und musste dann immer warten, bis wir angekurbelt kamen. Aber mit der Truppe würde ich so eine Tour jederzeit noch mal fahren.“
Sportwissenschaftler Lukas war allerdings zu Beginn von der Pacingstrategie des Restes etwas überrascht: „In den ersten drei Stunden haben die anderen jeden einzelnen Hügel volley genommen und sind an jedem Anstieg erst mal an mir vorbeigerauscht. Ich habe dann auf mein Powermeter geschaut und war immer an meiner FTP – das geht halt eine Stunde und danach ist es vorbei.“
Der Wendepunkt
Solange die Beine noch frisch waren, lief es für alle rund. Der Sonnenaufgang tat sein Übriges, besonders für Maren: „Auf der Schwäbischen Alb wurde es langsam hell und ganz hinten am Horizont habe ich das Alpenpanorama gesehen und wusste, dass wir da noch durchfahren. Das war schon ein cooles Gefühl.“ Danach ging es leider erstmal abwärts. Lukas litt besonders unter der Tempoverschärfung durch das kurzzeitige Mitfahren von Alex, der eigentlich das Begleitfahrzeug steuerte, aber zumindest einen Teil der Strecke auf dem Rad fahren wollte.
„Als das flache Stück vorbei war, waren wir schon gut kaputt. Der erste Berg ging nach 250 Kilometern los, es waren 30 Grad im Schatten und da lagen noch 5500 Höhenmeter vor uns.“
Raphael

Für Raphael war der Tiefpunkt am ersten Anstieg erreicht: „Als das flache Stück vorbei war, waren wir schon gut kaputt. Der erste Berg ging nach 250 Kilometern los, es waren 30 Grad im Schatten und da lagen noch 5500 Höhenmeter vor uns.“ Selbst ohne schon zehn Stunden im Sattel gesessen zu haben, wäre der noch kommende Teil eine grobe Ansage gewesen. Mit bereits gut angeschossenen Beinen erschien die Aufgabe geradezu übermächtig. Bisher konnten wir es auch mal rollen lassen, für den Rest der Tour musste andauernd Druck auf dem Pedal stehen.


Für Lukas fing hier allerdings der vergnügliche Teil der Tour an. Er hatte seine Ernährung minutiös durchgeplant und bis zum Bodensee schon zwölf Gels intus. Ab dort ging es ihm dann plötzlich richtig gut:
„Das tat mir auch leid, dass ich dann angefangen habe, die Leute zuzuquatschen, weil ich einfach plötzlich so Bock hatte. Mir ging es viel zu gut dafür, dass ich schon fast 300 Kilometer in den Beinen hatte.“
Lukas

Das Finale
Wie sich herausstellte, war der ursprüngliche Plan, im Sonnenuntergang auf dem Stelvio anzukommen, nicht haltbar. Pausen werden länger und häufiger, je größer die Gruppe ist und so begannen wir den Schlussanstieg in der aufziehenden Abenddämmerung. Für Raphael war das nur ein Berg unter vielen: „Ich habe keine Ahnung von traditionellem Radsport. Bilder vom Stelvio kannte ich nur von Instagram und das war auch ein geiles Gefühl, da zu fahren. Und Lukas hat mir dann Geschichten darüber erzählt, wie vor ein paar Jahren hier ein Profi aufs Klo musste und die anderen nicht auf ihn gewartet haben und es war megawitzig.“ Während der selbsternannte Radsport-Ultra Lukas Spaß hatte und Raphael unterhielt, gingen bei Marion mit der Sonne die Lichter aus: „Das war am Ende viel härter, als ich es mir vorgestellt hatte, vor allem durch die Höhenmeter und die 14 Kilometer Anstieg am Ende. Man gurkt da mit 5 km/h hoch und weiß, dass es noch zwei Stunden so weitergeht, bis man im Ziel ist.“ Auch Maren hatte nicht unbedingt freundliche Gedanken:
„Um Gottes Willen, wieso machst du die Scheiße? Wieso machst du nicht Yoga wie deine Freundinnen?“
Maren

Fazit
Wir wissen jetzt, dass wir auch die verrücktesten Ideen umsetzen können – die richtige Begleitung vorausgesetzt. Und Touren wie diese sind nicht nur mit Begleitwagen möglich, ganz im Gegenteil. Alle Mittfahrenden waren sich einig, dass allein die permanente Möglichkeit, in den Besenwagen zu steigen, zusätzlichen psychologischen Druck aufgebaut hat. Doppelt ärgerlich, weil Langstrecken wie diese weniger eine Sache der Beine als vielmehr des Kopfes sind. Und der profitiert dann auch am meisten, so Maren: „Langstrecken haben etwas Meditatives. Du fährst durch einen Wald, dann kommt ein Feld, vielleicht ein Dorf und wieder ein Wald … Ich nehme die Landschaft gar nicht so bewusst wahr und kann mich dabei tierisch gut entspannen. Von so einer Tour komme ich nach Hause und mein Körper ist total kaputt, aber der Kopf ist entspannt.“ So kaputt war ihr Körper dann doch nicht, denn drei Tage später war sie schon wieder auf dem Weg in den Bikepacking-Urlaub … Und wir planen schon die nächste Ultra-Tour!
Video Premiere
Taucht gemeinsam mit uns in dieses besondere Abenteuer mit ein und seid bei der Live Premiere auf unserem YouTube Kanal mit dabei. Markiert euch Sonntag, den 08. November 2020 um 20:00 Uhr. Marion, Maren, Lukas, Raphael und unsere Support Crew werden im Live Chat während der Premiere eure Fragen beantworten und euch noch weitere Insights geben können.