In search of volcanos

Adventure

Gibt es in Deutschland eigentlich Vulkane? Eine Frage, die man vielleicht in der dritten Klasse im Sachkunde-Unterricht beantwortet – oder wenn man gerade einen Trip nach Italien zu einem Ultra-Rennen zwischen zwei Vulkanen absagen musste.

Aber von vorne:

Ende Oktober war ich für den Two Volcano Sprint angemeldet, ein „kurzes“ Ultra-Distanz-Rennen, ohne Support über 1,200 km durch Süditalien vom Vesuv zum Etna. Für mich der große Meilenstein, auf den ich die letzten Monate hingearbeitet hatte (und ein willkommenes Alibi für eine Woche Urlaub auf Sizilien zum Sonne tanken vor dem Winter). Für die Ultra-Distanz Szene der große Knaller zum Saisonabschluss mit einem sensationell besetzten Startfeld.
Die Koffer – oder besser gesagt die Bikepacking Taschen – waren schon fast fertig gepackt, die Route auf den Garmin geladen und das Fahrrad für die Zugfahrt nach Neapel in der Transporttasche verstaut, als mir am Tag vor der Abreise am späten Abend Corona einen Strich durch die Rechnung machte: Neapel, die Region, in der das Rennen drei Tage später startete, wurde zum Risikogebiet erklärt. Homeoffice ist in meinem Beruf keine Option, daher hatte ich keine Möglichkeit, eine mögliche Quarantäne nach der Rückkehr einfach auszusitzen. Also Basta, aus der Traum von Gelato-Stops an der Amalfi-Küste und Pizza an der Ziellinie.

Emily Chapell beschreibt in ihrem Buch „Where there is a will” das emotionale Loch, in das man nach einem Ultra-Distanz-Rennen fallen kann, sehr eindrücklich. Wenn man durch äußere Umstände daran gehindert wird, überhaupt erst zu starten, fällt man auch erst einmal in ein emotionales Loch – nur dass es schwieriger ist, zu rechtfertigen, was man dann so alles an Schokolade vernichtet, man hat ja nicht gerade tagelang ohne Ende Kalorien verbrannt. Um nicht vollständig im Frust zu versinken und um eine Ausrede zu haben, doch noch jede Menge Eis zu essen, musste also ein neuer Plan her, meine Two-Volcano-Alternative. Die Frage, ob es in Deutschland auch Vulkane gibt, war schnell beantwortet – keine aktiven Feuerspucker, aber einen Haufen Berge und Bergregionen, die aus Vulkanausbrüchen entstanden sind. So schnell hatte ich einen Plan. Strecke auf Komoot geplant, ein paar zusätzliche Wärmeschichten für das deutsche Herbstwetter eingepackt, und schon war ich startklar für mein kleines Alternativ-Abenteuer.

Hohentwiel/Hegau

Wenigstens war die Anreise etwas unkomplizierter als nach Italien. Mit nur zwei Regionalzügen kam ich nach Singen am Fuße des Hohentwiel im Hegau, dem ersten Vulkan meiner Reise. Für den Start hatte ich eine etwas skurrile Skulptur im Stadtzentrum ausfindig gemacht – an der Startlinie des Two  Volcano Sprint stand schließlich auch eine eindrucksvolle Statue. Kein Ersatz für die Magie eines Starts im blinkenden Lichtermeer einer großen Gruppe Radfahrer, aber immerhin. Der Weg aus der schlafenden Stadt heraus war nicht lang und nach einem kurzen knackigen Anstieg war ich bereits auf dem ersten Vulkan der Tour, dem Hohentwiel. Da ich auf die -im Nachhinein wenig sinnvolle- Idee gekommen war, am späten Abend in vollständiger Dunkelheit zu starten, war von der Aussicht natürlich nichts zu sehen und die Tore zur Festungsruine auf der Kuppe waren verschlossen. Also keine Burgbesichtigung und keine schönen Fotos, aber Vulkan 1/7 war geschafft.

Totenkopf/Kaiserstuhl

Nach der holprigen Abfahrt vom Hohentwiel ging es auf in Richtung Schwarzwald. Ich rollte ganz friedlich im Dunkeln durch die langsam ansteigende Landschaft. Ich mag die ruhige Stimmung nachts auf dem Rad, man nimmt die Umgebung durch einen völlig anderen Filter wahr. Im hell erleuchteten Kegel des Scheinwerfers ist alles kontrastiert durch die starken Schatten. Geräusche klingen eindrucksvoller als im Hellen, wenn man viel mehr damit beschäftigt ist, unzählige visuelle Eindrücke zu verarbeiten. Und doch sieht man, vor allem in einer klaren Nacht, auch im „Dunkeln“ erstaunlich viel, zumindest im dicht besiedelten Deutschland, wo es fast nirgendwo wirklich dunkel wird.

Ich hatte mir vorgenommen, die erste Nacht einfach durch zu fahren, um dann am Morgen schon am zweiten Vulkan anzukommen. Die Euphorie, endlich unterwegs zu sein hielt für einige Kilometer an, dann wurde ich aber von der kalten Realität eingeholt: Herbstnächte im Schwarzwald sind alles andere als warm. Mir wurde erst viel zu spät bewusst, wie kalt es war und als ich anfing, Schicht um Schicht zusätzlich anzuziehen, war ich schon ausgekühlt. Schnell war klar, dass ich mich dringend aufwärmen musste. So fand die erste Etappe nach gerade mal 50 Kilometern ein jähes Ende und ich lag zitternd in meinem Biwak. Es dauerte eine Stunde, bis ich nicht mehr fror, genug Zeit, über meinen Fehler, mich zu spät warm genug anzuziehen, nachzudenken. Die beste Ausrüstung bringt eben nichts, wenn man sie nicht richtig benutzt.

Noch vor dem Morgengrauen schälte ich mich wieder aus den kuscheligen Daunen und vergewisserte mich, dass ich wirklich alles anhatte, was ich anziehen konnte, bevor ich mich wieder aufs Rad setzte. Als die Sonne sich dann langsam Richtung Horizont schob, fuhr ich gerade über einen kleinen Bergrücken und hatte schräg hinter mir freien Blick auf die rot erleuchtete Alpenkette im Südosten. Der Raureif hüllte die Wiesen zwischen den dunklen Tannen des Schwarzwalds in ein eisiges Kleid. Meine Zehen waren zwar schon wieder bitterkalt, aber die märchenhafte Landschaft machte das mehr als wett. Von der Kandel, einem der beliebtesten Rennrad-Berge des Schwarzwalds, konnte ich dann tief unten in der Rheinebene den Kaiserstuhl erblicken. Der letzte Rest des Ärgers über mein langsames Vorankommen wurde vom Fahrtwind auf der kurvigen Abfahrt davongeweht.

Im Kaiserstuhl war Kaiserwetter angesagt, alles strahlte im schönsten Herbst-Bunt. Den Totenkopf hatte ich natürlich nur wegen seines Namens als Zielgipfel im Kaiserstuhl herausgepickt, aber es war im Nachhinein eine gute Wahl, auf dem Gipfel gab es nämlich einen kleinen Aussichtsturm und, bei dem schönen Wetter, sogar eine Aussicht; wie sich später herausstellen würde die absolute Ausnahme bei meinen Vulkanbesuchen.

Laacher See/Vulkaneifel

Auf dem Weg aus dem Kaiserstuhl heraus fand ich dann auch endlich eine Eisdiele an der Strecke – das erste Eis der Tour hatte ich mir mit den kurzen aber steilen Anstiegen durch die Weinberge redlich verdient. Außerdem war es sehr an der Zeit, an meiner Eis-Bilanz zu arbeiten. Schließlich hatte ich in guter alter Tradition meine Freunde wetten lassen, wie viele verschiedene Eissorten ich während des Two Volcano Sprint essen würde – und die Wette ließ ich natürlich nicht mit der Planänderung verfallen. Eiswetten sind Ehrenwetten!

Jetzt lag erst einmal ein flacher und wenig spektakulärer Abschnitt vor mir. Also nicht weiter schlimm, dass ich viel davon im Dunkeln fuhr, es wäre auch bei Tag nicht sonderlich spektakulär gewesen. Zum Schlafen verkroch ich mich nach einigem Suchen in einem Maisfeld. Ehrlich gesagt war das weder idyllisch noch bequem. In relativ dicht besiedelten Gebieten fällt es mir oft schwer, einen gemütlichen Schlafplatz zu finden. Irgendwie fühle ich mich in solchen Regionen immer ein wenig fehl am Platz, wenn ich so nah an all den Bequemlichkeiten der Zivilisation meine minimalistische Schlafstätte ausbreite. Einfach in einem Waldstück auf dem Boden zu schlafen ist eigentlich das Natürlichste der Welt – und doch bricht es auf radikale Weise mit den Regeln dieser Zivilisation, wie sie mir mein Leben lang eingebläut wurden. „Das macht man nicht.“ Und wenn man es dann doch tut, ist das zwar manchmal nicht bequem, aber mit Bequemlichkeit hat sich auch noch nie jemand Freiheit erkauft. Und so lag ich ziemlich schief und etwas matschig in diesem Maisfeld, hörte die vereinzelten Autos und Lastwagen auf der nah gelegenen Landstraße vorbeibrummen, fragte mich, warum man so etwas Skurriles eigentlich freiwillig in seinem Urlaub macht und war doch irgendwie stolz, dass ich etwas tat, das ich mich vor wenigen Jahren niemals getraut hätte: Einfach draußen in einem Maisfeld schlafen.

Einfach in einem Waldstück auf dem Boden zu schlafen ist eigentlich das Natürlichste der Welt – und doch bricht es auf radikale Weise mit den Regeln dieser Zivilisation.

Neben dem Draußen-Schlafen gibt es noch weitere Dinge, die beim Radfahren auch mal weniger angenehm sein können. Stürze zum Beispiel. Ich habe allerdings eine Theorie, dass jeder ein Sturzkonto hat. Wenn man regelmäßig harmlose Stürze darauf einbezahlt, ist das Konto immer gut gefüllt, und so kommt man daran vorbei, einen schwereren Sturz in Kauf nehmen zu müssen. So hat es dann zumindest in meiner Vorstellung etwas Gutes, wenn man sich den Ellenbogen und den Oberschenkel aufschürft. Dieses Mantra musste ich mir allerdings mehrmals vorsagen, als ich aus heiterem Himmel auf einem flachen Fahrradweg aus der Kurve geschlittert war und recht unelegant neben meinem Fahrrad auf dem Boden saß. Gummibärchen helfen in solchen Momenten übrigens auch. Und dann schnell wieder aufs Rad setzen und weiterfahren, bevor man zu viel über den nächsten Sturz, der irgendwann kommen wird, nachdenken kann.

Nachdem ich die Rheinbiegung bei Mainz quer durch die Pfalz abgekürzt hatte, kam ich zurück zu einem Abschnitt des Rheins, den ich schon lange einmal fahren wollte: Der Mittelrhein zwischen Bingen und Boppard. Und die Strecke mit all den Burgen, Weinbergen und schroffen Felsen enttäuschte mich wirklich nicht – was aber auch am fast sommerlichen Wetter liegen konnte. Natürlich auch beste Bedingungen, um den Eis-Zähler in die Höhe zu treiben!

Vom Rhein aus ging es dann steil über einen Ausläufer des Hunsrück auf Kurs zum nächsten Vulkan. Der Laacher See füllt einen Vulkankrater, der vor „nur“ 13.000 Jahren ausgebrochen ist. Als ich den Berg schon aus der Ferne in der Abendsonne erkennen konnte, lag ich noch gut in der Zeit, um für ein Foto vom Sonnenuntergang oben anzukommen. Das Wetter spielte auch mit – aber es sollte wohl nicht sein mit mir und den Vulkanfotos. Ich war naiv davon ausgegangen, dass ich sicher an einem guten Aussichtspunkt vorbeikommen würde. Aber nichts da: Der See war komplett von Wald umgeben, durch den ich also raste, bis die Sonne unterging und ich die Hoffnung auf ein Foto vom Kratersee begraben musste. Der Tag war trotzdem ein perfekter Urlaubstag mit Pizza und Tiramisu zum Abschluss.

Hoherodskopf/Vogelsberg

Eine spontan geplante Strecke ist voller Überraschungen. Zum Beispiel füllen sich unerwartet weiße Flecken auf der eigenen geistigen Landkarte. Oder man kann Orte, von denen man bisher nur vage gehört hatte, verorten und mit wirklichen Bildern verbinden. So ging es mir mit dem Westerwald. Der Name des Mittelgebirges war zuvor nur ein leeres Wort für mich gewesen, ich hatte keinen blassen Schimmer, wo er zu verorten war. Und nun fuhr ich quer durch. Mit dem vorigen spektakulären Tag konnte die ruhig dahinrollende Landschaft nicht mithalten, ich hätte vielleicht doch den kleinen Umweg an der Lahn entlang wählen sollen. Aber von den Herbstfarben vor dem strahlend blauen Himmel hatte ich noch lange nicht genug. Und man bracht auch nicht immer spektakulär, manchmal reicht auch einfach schön.

Vielleicht rollte ich aber etwas zu entspannt dahin. Oder es sollte einfach so sein, dass ich keine schönen Gipfelfotos zustande brachte. Als ich auf dem Hoherodskopf im Vogelsberg ankam, der einen perfekten Ausblick für den Sonnenuntergang gegeben hätte, war es nämlich schon stockdunkel. Das mit dem Timing war wohl einfach nicht meine Sache.

Wasserkuppe/Rhön

Eine lange Strecke muss man sich im Kopf immer in kleinere Abschnitte unterteilen, das ist wahrscheinlich die erste Grundregel der mentalen Strategie für lange Distanzen auf dem Rad. Wenn man kein irgendwie greifbares Ziel vor Augen hat, ist es zu einfach, sich von der noch bevorstehenden Strecke einschüchtern zu lassen. In einem Rennen sind es oft Checkpoints und Stempelstellen. Auf meiner Vulkan-Tour waren es, natürlich, die Vulkane. Der Abschnitt vom Vogelsberg zur Wasserkuppe war der kürzeste dieser Abschnitte, sonst hätte ich vielleicht nachgegeben, als ich spät in der Nacht durch Fulda fuhr und sich mir der Gedanke aufdrängte, doch noch nach einem Hotel zu suchen und die Nacht einfach Nacht sein zu lassen. Aber natürlich wusste ich, dass ich dann etwas verpasst hätte.

Nachts auf Berge fahren mit dem Rad – wer das noch nie gemacht hat, wird sich wohl denken, dass das eine mehr als seltsame Idee ist. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich das vermutlich auch noch skurill gefunden. Aber es ist vielleicht der beste Weg, auf dem Rad auf der Straße wirkliche Ruhe zu finden. Der sternenklare Himmel, die leeren Straßen, nur ab und an ein kleiner Ort mit leuchtenden Fenstern. Und diese Stille. Ein Pedaltritt nach dem anderen, Kurbeldrehung um Kurbeldrehung den Berg nach oben. Immer stiller und stiller.

Ich war beinahe enttäuscht, dass der Anstieg schon vorbei war, als ich auf der Wasserkuppe ankam. Und das, nachdem ich fast noch weich geworden war beim Gedanken an ein warmes Hotelzimmer in der Stadt. Je näher man daran war, aufzugeben, desto erhebender ist das Gefühl, es doch zu und oben anzukommen. Statt des warmen Hotelzimmers fand ich dann auf einem Spielplatz ein Klettergerüst als Unterschlupf für die Nacht. Sogar ein Dach über dem Kopf! Als ich mich hingelegt hatte, fiel mir mein Fehler auf: Zwischen den Brettern über mir waren breite Lücken. Also doch kein Schutz vor dem angekündigten Regen, aber das war mir mittlerweile egal, meine Augen waren schon zu gefallen.

Der angekündigte Regen kam, aber wenigstens nicht in Strömen. Dafür war der Nebel umso dichter. Und so gab es zum Sonnenaufgang schon wieder nicht die erhoffte Aussicht vom Gipfel. Aber irgendwie passte der Nebel zum Wahrzeichen der Wasserkuppe: Das Radom, unter dessen Kuppel sich im Kalten Krieg Abhöreinrichtungen verbargen, taugt auch ohne Aussicht als mysteriöses Motiv auf dem Gipfelfoto.

Rauher Kulm/Oberpfalz

Abfahrt über nassen Asphalt im Hochnebel. Es ist am frühen Morgen noch fast niemand unterwegs auf den abgelegenen Straßen durch die Rhön. Es ist nass, es ist kalt – und doch wunderschön. Vom Regen gewaschen strahlen die Bäume gelb, rot und braun. Die Wolken, die tief zwischen den Hügeln hängen, sorgen für eine raue Stimmung. An so einem so malerischen Herbsttag hast es dann bei aller Race-Romantik doch auch große Vorteile, wenn man nicht in einem Rennen, sondern im Urlaub ist: Ich trank einfach einen zweiten Kaffee und aß noch ein Stück Kuchen, als ich mich noch etwas länger in einem Café aufwärmen wollte, bevor ich weiterfuhr.

Noch ein Vorteil davon, „nur“ im Urlaub zu sein: Man kann auch einfach mal Urlaub vom Urlaub machen. Ich legte kurz nach der Wasserkuppe über das Wochenende eine Radpause ein, um Freunde zu besuchen. Und erst am Montag ging es wieder weiter – im Regen. Erfahrungsgemäß macht es mir immer mehr Spaß, im Regen Fahrrad zu fahren, als ich vorher denke. Oder zumindest ist die Realität meistens viel weniger schlimm, als die Vorstellung, wie nass und kalt es sicherlich wird. Aber manchmal wird auch meine Motivation gehörig auf die Probe gestellt, vor allem ohne das Adrenalin und die tickende Uhr eines Rennens. In der Verhandlung mit meinem inneren Schweinehund war das erste Mittel der Wahl ganz klassisch Zucker. Sechs Grad und Regen sind vielleicht nicht das klassische Eiswetter, aber in Bayreuth, direkt neben der berühmten Oper, wurde ich mit einem phantastischen Eis überrascht.

Doch ich musste noch tiefer in die Trickkiste greifen, um mich bei Laune zu halten. Ich wusste zwar, dass es um den nächsten Vulkan herum einige Schutzhütten im Wald gab, ich also sicherlich einen trockenen Ort für die Nacht gefunden hätte, aber ich beschloss, mich mit der Aussicht auf eine warme Dusche zu bestechen. Zufallsfunde sind manchmal die besten und so fand ich bei einer schnellen Suche nach einer Unterkunft ein absolutes Juwel für die Nacht: Einen Glaspavillon am Ende eines Bauernhof-Gartens. Fast wie draußen schlafen, aber eben mit dem Komfort eines kuschligen Bettes, einer Kaffeemaschine und nicht nur einer warmen Dusche, sondern sogar einer Badewanne. Und als Sahnehäubchen war die Vermieterin dieses kleinen Paradieses so sehr von meiner Fahrradtour durch den nassen Herbst begeistert, dass sie mir ein ganzes Tablett voll mit Käse, Brot und Früchten brachte, obwohl ich ihr versichert hatte, dass ich noch genug zu essen dabei hatte. So gemütlich kann ein Abend einfach nur dann sein, wenn man sich vorher tapfer durch die Nässe und Kälte gekämpft hat!

Der Rauhe Kulm muss trotz seiner gerade einmal 681 Meter Höhe ein beeindruckender Berg sein. Streng genommen ist er kein richtiger Vulkan, da er nie ausgebrochen ist – vor circa 21 Millionen Jahren entstand er, als die Basaltsäule aus Magma, die bis kurz unter die Erdkruste aufgestiegen war, durch Erosion freigelegt wurde. Daher hat der Berg seine ungewöhnliche Form mit einer Art Kuppel auf der Kuppel. Zumindest sah er auf den Fotos, die ich bei meiner Recherche gefunden hatte, so aus. Ich war wieder rechtzeitig zum Sonnenaufgang aufgestanden. Aber von der Basaltkuppel des sechsten Vulkans meiner Tour sah ich genau: Nichts. Die Wolken hingen exakt auf der Höhe, auf der es geologisch interessant wurde. War es langsam eine Tradition, dass ich einfach kein glückliches Händchen für Licht- und Wetterverhältnisse auf den Vulkanen hatte?

Lausche/Lausitz

Endspurt. Naja, wohl noch nicht ganz – es lagen noch 400 km und 6,000 hm vor mir.  Aber immerhin war der letzte Abschnitt gespickt von kleinen Höhepunkten. Die nächste Landmarke war das ehemalige Drei-Länder-Eck an der Grenze zwischen DDR, BRD und Tschechien. Hier hatte ich ein Jahr zuvor am Tag der Deutschen Einheit meine Tour entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze gestartet. Ich erlaubte mir eine kleine Abweichung von den Regeln, die ich mir selbst gesteckt hatte, und überquerte die Grenze ins offizielle Corona-Risikogebiet Tschechien. Ein paar Meter hinter dem Grenzstein gibt es nämlich überdachte Picknicktische. Weit und breit kein Mensch zu sehen außer mir, so konnte ich diesen kleinen Ausbruch mit meinem epidemiologischen Gewissen vereinbaren.

Der nächste nostalgische Moment wartete am späteren Abend auf mich: Die Passhöhe Hefekloß im Erzgebirge. Für sich genommen schon ein humoristisches Highlight, gekrönt aber von den Erinnerungen an Maurice Brocco 400 im Sommer, als ich mit meiner Freundin Pauline dort im Nieselregen stand und wir das obligatorische Pass-Foto machten. Getragen von den Erinnerungen an vergangene Abenteuer verging der Tag wie im Flug und fand seinen krönenden Abschluss auf dem Fichtelberg. Ich hatte eine urige Schutzhütte mit einem spitzen Dach ganz in der Nähe des Gipfels ausfindig gemacht. (Wie sich später herausstellte ein beliebtes Bikepacking-Hotel: Ein Bekannter schrieb mir, als ich ein Foto von der Hütte geteilt hatte, gleich, dass er dort auch schon einmal geschlafen hatte). Die Wolken hingen dicht zwischen den Bäumen rundherum und der Wind pfiff nur so über das Dach. Aber was gibt es gemütlicheres, als in einem warmen Schlafsack im Wald zu liegen, in einer trockenen Hütte, dem Wald zu zu hören und freien Blick auf den strahlenden Sternenhimmel zu haben, der plötzlich vom Wind zwischen den Wolken freigelegt wird?

Ich hatte insgesamt wenige Gedanken daran verschwendet, wie lange genau ich für meine Tour brauchen würde. Ich wollte einfach sehen, wie es sich ergab. Aber irgendwo im Erzgebirge packte mich dann doch der Ehrgeiz und der Gedanke, den Rest der Strecke zum letzten Vulkan am Stück durch zu fahren, ließ mich nicht mehr los. Den ganzen Tag rollte es nur so dahin und als es langsam dunkel wurde, war die Lausche in greifbare Nähe gerückt. In der sächsischen Schweiz zögerte ich noch einmal kurz, ob ich nicht doch die Dunkelheit verschlafen und erst bei Tageslicht durch diese Landschaft fahren sollte, die ich schon länger einmal besuchen wollte. Aber da hatte ich mich schon zu sehr im Weiterfahren verbissen, um doch noch anzuhalten.

Ein großer Vorteil von Fahrten zu nachtschlafender Zeit: Man fühlt sich nicht dabei beobachtet, wie man sich und seinem Fahrrad ziemlich unsinnige Dinge antut. Zum Beispiel, sein Rad im Dunkeln auf einem steilen Waldweg auf einen Gipfel zu schieben. In Schuhen, die definitiv nicht zum Wandern gemacht sind. Nur um dann mit angezogenen Bremsen im Schneckentempo wieder herunter zu holpern. Es gehört ein wenig Starrsinn dazu, auf Carbonsohlen einen Berg hoch zu kraxeln. Und seinen gepflegten Starrsinn friedlich auszuleben, ist nachts um vier einsam im Wald vielleicht einfach einfacher als unter allzu wachenden Augen anderer Menschen.

Gepflegter Starrsinn. In wohldosierten Portionen ist das eine gesunde Charaktereigenschaft. Zumindest taugt sie für erinnerungswürdige Erlebnisse. Ohne meinen Starrsinn, mitten in der Nacht auf meinen letzten Vulkan zu fahren, hätte ich mit Sicherheit den wohl unwirtlichsten Schlafplatz meiner bisherigen Biwak-Karriere verpasst. Merke: Bei starkem Wind ist ein Gipfel eine denkbar ungeschützte Stelle. Es gab keinen ernst zu nehmenden Unterstand, aber ich war weit davon entfernt, von meinem Plan, für den Sonnenaufgang auf der Lausche zu bleiben, abzulassen. Insgeheim wusste ich zwar schon, dass es natürlich wieder einmal keinerlei Aussicht für mich geben würde, aber so ist das eben mit dem Starrsinn. Also kauerte ich mich für die verbleibende Dunkelheit in eine Ecke zwischen Mauern, die zumindest einen Teil der über mich hinweg fegenden Windböen abhielten. Zu meiner eigenen Überraschung schlief ich sofort ein und wachte einigermaßen erholt wieder auf, als es langsam hell wurde. Ich musste lachen, als ich mir eingestand, dass die Wolken beim besten Willen nicht mehr aufreißen würden.

Über das Ziel

Und plötzlich war die Reise vorbei. Dass es kein Rennen war, war mir seit dem einsamen Start nicht mehr so klar gewesen. Niemand wartete im Ziel, es gab keine Party, und keinen Stempel. Keine wissenden Blicke und keine verschwitzten Umarmungen. Keine Geschichten über improvisierte Reparaturen scheinbar unwiederbringlich zerstörter Komponenten. So hielt mich nichts am Zielort meiner Reise und innerhalb von einer Viertelstunde saß ich im nächsten Zug auf dem Weg nach Hause. Aber das war auch genau richtig so, denn Zittau war nie das Ziel gewesen. Das Ziel hatte ich schon längst erreicht, gleich in der ersten Nacht, als mich im nächtlichen Schwarzwald die Kälte eingeholt hatte: Das Ziel war, in einer anderen Welt abzutauchen und für ein paar Tage weit weg zu sein. Dafür brauche ich kein organisiertes Rennen. Dafür brauche ich auch nicht in ein anderes Land zu fahren. Es reicht mir, mein Fahrrad zu satteln, die Wohnungstür hinter mir zu schließen und nach draußen zu gehen. Raus in ein kleines aber feines Abenteuer.


Alle weiteren Informationen zu Andrea und ihren Abenteuern findet ihr auf Instagram.

Fotocredits: Andrea Seiermann & Florian Freundt

Text: Andrea Seiermann

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